Die Hisbollah zwischen Herausforderungen und Widerstand

Die Hisbollah steht vor der größten Herausforderung seit ihrem Entstehen, nachdem wichtige militärische und politische Leitungsmitglieder ermordet worden sind, darunter ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah, der die Partei 32 Jahre lang geführt hatte.

Die israelische Besatzungsarmee hat ab Mitte September mit Unterstützung der USA eine mörderische Eskalation gegen den Libanon betrieben, die die Form eines offenen Krieges angenommen hat. Die Eskalation begann mit der Explosion von Kommunikationsgeräten, die von zivilen und militärischen Hisbollah-Mitgliedern benutzt wurden, 39 Menschen wurden getötet und fast 3.000 verletzt. Sie setzte sich mit massiven Bombenangriffen fort, die auf die Ermordung von hochrangigen militärischen und politischen Persönlichkeiten der Hisbollah abzielten, durch die aber auch mehr als 1.000 Zivilist:innen getötet wurden; damit wurde auch die Zwangsumsiedlung von mehr als einer Million Menschen verursacht. Die Gesamtzahl der seit dem 7. Oktober getöteten Personen liegt nun bei über 2000.

Personenkult

In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Propaganda der Partei ein Personenkult um Hassan Nasrallah entwickelt. Dies machte sich insbesondere nach dem israelischen Krieg gegen den Libanon 2006 bemerkbar, als ihr ursprünglicher Slogan „Al-Nasr al-îlâhi“ in „Nasr(un) min Allâh“ (Ein Sieg Gottes) geändert wurde, was eine Instrumentalisierung des Namens von Hassan Nasrallah darstellte. Dies war Teil der Kultivierung des Führerbildes in den Medienkampagnen der Partei.

Während die Hisbollah bei anderen libanesischen Glaubensrichtungen und sogar im Nahen Osten und in Nordafrika eine beträchtliche Popularität genoss, ging Nasrallahs Beliebtheit außerhalb der Parteibasis nach dem Krieg von 2006 deutlich zurück. Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe, darunter dass die Hisbollah ihrer militärischen Stärke gegen andere nationale Akteure einsetzte. So marschierte die Partei beispielsweise 2008 in einige Viertel in Westbeirut ein, und in anderen Regionen, insbesondere im Chouf, kam es zu militärischen Auseinandersetzungen, nachdem die libanesische Regierung angekündigt hatte, sie wolle das Kommunikationsnetz der Partei zerschlagen.

Außerdem war sie später an der Seite des despotischen syrischen Regimes an der mörderischen Unterdrückung der syrischen Volksbewegung beteiligt, dadurch wurden die konfessionellen Spannungen im Libanon erneut angeheizt.

Schließlich ist die Hisbollah seit 2005 an jeder Regierung beteiligt, und daher wird sie wie die anderen herrschenden Parteien im Libanon für die Finanz- und Wirtschaftskrise 2019 mitverantwortlich gemacht. Hassan Nasrallah sprach sich in diesem Jahr äußerst scharf gegen die Protestbewegung aus, er warf ihr vor, sie werde von ausländischen Botschaften finanziert und schickte Parteimitglieder, um die Demonstrant:innen anzugreifen. Hinzu kamen weitere konfessionelle Vorfälle zwischen Hisbollah-Mitgliedern und Andersgläubigen und schließlich die Anschuldigungen, dass vor allem die Hisbollah die Untersuchung der Explosionen im Hafen von Beirut [im August 2020] behindere. All dies hat dazu geführt, dass die Hisbollah in der libanesischen Bevölkerung, abgesehen von ihrer schiitischen Volksbasis, sowohl politisch als auch gesellschaftlich immer isoliert wurde. Statt als Figur des nationalen Widerstands wurde Nasrallah zunehmend als konfessioneller „Zaim“ (Führer) wahrgenommen, der für die politischen Interessen seiner Partei und von autoritären Regimen wie denen in Syrien und dem Iran eintritt.

Diese Isolation trug dazu bei, dass die Partei nach dem 7. Oktober einen umfassenden Krieg mit Israel verhindern wollte. Mit einem kalkulierten und vorsichtigen Vorgehen gegen militärische Ziele in Israel versuchte die Hisbollah zu verhindern, dass der Konflikt von politischen Feinden innerhalb des Libanon ausgenutzt wird; sie wollte nicht zum Hauptakteur gemacht werden können, der für alles Unglück im Land verantwortlich ist. Der derzeitige Krieg von Israel gegen den Libanon, der von den USA unterstützt wird, hat diesen Plan jedoch ernsthaft gefährdet.

Wie geht es nun weiter?

Vor diesem Hintergrund versucht die Hisbollah-Führung zu beweisen, dass die Partei den von ihrem ehemaligen Generalsekretär der Partei nach dessen Ermordung und der einer Reihe hochrangiger Militärs und Politiker eingeschlagenen Weg weiterverfolgt. Der Interimsführer Naim Kassim unterstrich dies vor seinen Anhängern und Mitgliedern in einer Rede, als er sagte:„Wir folgen den Spuren von Hassan Nasrallah.“

Die Prioritäten bestehen für die Hisbollah nun darin, zunächst ihre internen Strukturen und ihre Befehlskette zu schützen, insbesondere durch Füllung des Vakuums an der Spitze der Partei in Bezug auf die verschiedenen politischen und militärischen Verantwortlichkeiten und die Wahl eines neuen Generalsekretärs.

Diese Prioritäten erklären zum Teil die jüngste rhetorische Entwicklung der Hisbollah-Partei in Bezug auf das seit dem 7. Oktober 2023 erklärte Ziel, die Fronten in Gaza und im Libanon bis zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen nicht zu trennen. Tatsächlich erklärten der stellvertretende Generalsekretär Naim Kassim und die Hisbollah-Abgeordneten Hussein Hajj Hassan und Amine Cherri nach der Ermordung von Hassan Nasrallah, ihre Priorität bestehe in der Beendigung der israelischen Aggression gegen den Libanon und dem Erreichen eines Waffenstillstands, unabhängig von einer Einstellung der Kämpfe im Gazastreifen. Diese Erklärungen verhallten jedoch ungehört, da die israelische Besatzungsarmee ihren mörderischen Krieg gegen den Libanon fortsetzte. Diese Entwicklung hängt auch mit den innerlibanesischen Problemen und der Unfähigkeit des wichtigsten Unterstützers Iran zusammen, viel mehr für die Hisbollah zu tun.

Dennoch bleibt die Partei derzeit der wichtigste politische Akteur im Libanon, sie übt weiter Einfluss über die Landesgrenzen hinaus aus, insbesondere in Syrien, und vertritt die regionalpolitischen Interessen Teherans.

Die militärischen Fähigkeiten der Hisbollah stellen trotz der israelischen Infiltration, der Schwächung der internen Kommunikation und der Ermordung vieler ihrer erfahrenen Militärkommandeure nach wie vor einen großen Pluspunkt der Partei dar. Insbesondere verfügt sie über eine militärische Stärke von mehreren zehntausend Soldaten (mit Reservisten wahrscheinlich etwa 50.000) und ein umfangreiches Arsenal an Raketen und Flugkörpern. Zum ersten Mal seit dem 7. Oktober setzte die Partei verschiedene Typen der Fadi-Raketen, bei denen es sich um starke Langstreckenraketen handelt, ein, um militärische Einrichtungen im Umland der Städte Haifa und Tel Aviv anzugreifen. Auch bei den ersten Versuchen der israelischen Besatzungsarmee, in die libanesischen Gebiete einzudringen, fügten die Hisbollah-Soldaten ihnen Verluste zu, indem sie mehrere Panzer zerstörten und mehrere israelische Soldaten töteen.

Außer ihrer bewaffneten Bewegung verfügt die Partei über ein ausgedehntes Netzwerk von Einrichtungen, die ihre Volksbasis mit wichtigen und grundlegenden Dienstleistungen versorgen, auch wenn dies durch den Krieg teilweise unmöglich gemacht wird und wenn die Einrichtungen unter dem Druck der ständig wachsenden Bedürfnisse der vom Krieg betroffenen Bevölkerung stehen, dazu gehören viele, die zu ihrer Basis in der armen Bevölkerung gehören. Vor diesem Hintergrund wird die große Mehrheit dieser Basis trotz größerer Kritik an der Partei und an ihrer Politik ihr höchstwahrscheinlich treu bleiben, insbesondere angesichts dessen, dass eine inklusive politische Alternative fehlt und dass es eine tiefe und anhaltende Wirtschaftskrise gibt, in der der Staat und seine öffentlichen Dienste ständig versagen.

Auf regionaler Ebene bedeutet eine zu starke Schwächung der Hisbollah Probleme für die geopolitische Strategie und das regionale Einflussnetz des Iran. Die strategischen Ziele Teherans bestanden, insbesondere seit dem 7. Oktober, nämlich darin, seine regionale geopolitische Position zu verbessern, um eine bessere Ausgangsposition für künftige Verhandlungen mit den USA, insbesondere über Atomfragen und Sanktionen, zu haben und seine politischen und sicherheitspolitischen Interessen abzusichern. Der jüngste iranische Angriff auf Israel muss in diesem Rahmen gesehen werden, es wird zugleich versucht, eine Form von Abschreckung zu praktizieren, auch wenn diese angesichts der Überlegenheit der israelischen militärischen Stärke und der Unterstützung durch Washington nicht mitkommen kann. Zudem wird dieser Angriff in keiner Weise den israelischen Krieg gegen den Libanon stoppen können.

Die Hisbollah befindet sich in der gefährlichsten Situation seit ihrer Gründung, und es ist unwahrscheinlich, dass sich dies angesichts der anhaltenden israelischen Angriffe und der Isolation der Partei im Libanon schnell bessern wird.

Zwar bestand die größte Stärke der Bewegung darin, dass sie eine starke und disziplinierte Organisation und ‒ trotz des Personenkults um Nasrallah ‒ keine „One-Man-Show“ aufgebaut hat, doch die Fähigkeit der Partei, ihre Basis zu verbreitern, ist aufgrund ihrer politischen Strategie und Ausrichtung stark begrenzt. Die Hisbollah hat sich nicht für den Aufbau eines gegenhegemonialen Projekts eingesetzt, das das konfessionelle und neoliberale System des Libanon in Frage stellen würde. Vielmehr unterstützte sie es aktiv, indem sie zu einem seiner Hauptverteidiger wurde.

Darüber hinaus fungierte die Partei als wichtigstes Zentrum des Einflusses und der Interessen des Irans in der Region, insbesondere nach dem Ausbruch der Aufstände in Syrien und im Nahen Osten und Nordafrika ab 2011; in diesen Interessen liegen ebenfalls eine autoritäre neoliberale Ordnung, die im Gegensatz zu Emanzipation und Befreiung der Volksklassen steht.

Mit anderen Worten: Wie andere regionale politische Akteure, die am Widerstand gegen Israel beteiligt sind, ist die Hisbollah nicht in der Lage, eine große Bewegung aufzubauen, die demokratische und soziale Fragen miteinander verbindet, sich gegen alle imperialistischen und subimperialistischen Kräfte richtet und durch den Aufbau von Bewegungen, in denen die Volksklassen die eigentlichen Akteure ihrer Emanzipation sind, gleichzeitig die soziale Transformation von unten fördert.

5. Oktober 2024

Aus dem Französischen übersetzt. Dieser Artikel ist auf Französisch auf der Webseite von Inprecor und auf Englisch auf der in London erscheinenden Webseite The New Arab veröffentlicht worden.

Joseph Daher ist ein syrisch-Schweizer Aktivist und Wissenschaftler. Er unterrichtet an der Universität Lausanne und dem Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. 2015 hat er an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London über „die politische Ökonomie der Partei Gottes im Libanon“ promoviert; seine Dissertation ist auf Englisch und Französisch als Buch erschienen. Zuletzt veröffentlichte er ein kleines Buch über „Palästinafrage und Marxismus“, das auf Französisch, Englisch und Kastilisch vorliegt.

Joseph Daher