Seite an Seite kämpfen – von Kiew bis Panama

Der letzte Bus wartet auf dem Parkplatz des Camps. Junge Menschen, von denen sich die meisten vor einer Woche noch nicht kannten, tauschen Telefonnummern, Social-Media-Kontakte und Umarmungen aus. Hier und da fließen Tränen, als wollten sie den Regenguss verlängern, der die Woche geprägt hat.

„Kommst du zu unserer Sommeruniversität?“

„Nein, dieses Jahr geht es nicht. Aber ich habe meinen Genossen Bescheid gesagt, gar nicht so wenige von ihnen sind interessiert.“

Am 26. Juli ist die 40. Ausgabe des antikapitalistischen Internationalen Jugendcamps zu Ende gegangen. Knapp 300 junge Menschen waren dafür unter dem belgischen Regen zusammengekommen, 30 % mehr als im Vorjahr. 300 Teilnehmer:innen kamen aus 29 Ländern1, die Genoss:innen nicht mitgezählt, die aufgrund von Visaproblemen kurzfristig absagen mussten.2 Dieser Erfolg spiegelt die neue Dynamik wider, die in einigen Sektionen der Vierten Internationale zu spüren ist; sie sind zwar meist viel kleiner als in ihrer Blütezeit nach 1968, aber sie ziehen wieder viele junge Menschen an, die eine Antwort auf die faschistische Bedrohung, die Zerstörung unserer hart erkämpften sozialen Rechte, das Wiederaufleben von rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt und den Klimachaos organisieren wollen. „Gauche anticapitaliste“, die belgische Sektion der Vierten Internationale, ist ein Beispiel dafür: In wenigen Jahren hat sie ihren Jugendsektor wieder aufgebaut, 2 % der Stimmen bei den Europawahlen [im Juni 2024] gewonnen und zu einer der treibenden Kräfte der sozialen Bewegung geworden, die sich gegen die neue, von der extremen Rechten geführte föderale Regierung stellt. Es war daher nur natürlich, dass sie die französische Sektion bei der Ausrichtung des Camps abgelöst hat.

Diskussionen, die von aktuellen Kämpfen ausgehen

Die dringenden Fragen, die sich aus den aktuellen Krisen ergeben, haben sich im Programm und in unseren Debatten widergespiegelt. Zum ersten Mal begann die Woche mit einem Tag, der dem Antirassismus gewidmet war. Aber auch an den folgenden Tagen ist dieses Thema nicht zu kurz gekommen: Es gab mehrere Veranstaltungen, bei denen rassistisch diskriminierte Menschen sich frei äußern konnten, eine Kommission, die dreimal in der Woche getagt ha, nicht gemischte Workshops, eine spezielle Abendveranstaltung.

Antifaschismus war ebenfalls ein allgegenwärtiges Thema. Mehrere Plenarveranstaltungen (natürlich die zu Antifaschismus und Internationalismus, aber auch die zu Feminismus und den LGBTI+-Kämpfen sowie die zu Antirassismus) widmeten sich ausführlich der Analyse der globalen extremen Rechten und der Suche nach einer Strategie zu ihrer Bekämpfung. Die antifaschistische Kommission, die im Laufe der Woche mehrmals zusammengekommen ist, bot die Gelegenheit, eine Solidaritätsbotschaft an alle antifaschistischen Aktivist:innen zu senden, die Repressionen ausgesetzt sind – von den „Seis de Zaragoza“ (Sechs von Saragossa) über Maja, eine in Ungarn inhaftierte deutsche Aktivistin, bis zur französischen antifaschistischen Gruppe „Jeune Garde“.

Der Widerstand gegen die reaktionäre Offensive gegen Transgender-Personen nahm ebenfalls einen großen Teil der Diskussionen ein, ebenso wie die Arbeitskämpfe angesichts der Zunahme der Arbeit von Studierenden und der prekären Lage der Jugend in unseren verschiedenen Ländern – aus diesem Grund wurde als neues Element des Camps ein Tag zum Thema Arbeit und Gewerkschaften eingeführt.

Leider bildeten Krieg und die Barbarei des Imperialismus den Hintergrund dieses Camps. Der westliche Imperialismus natürlich, der trotz der anhaltenden globalen Solidaritätsbewegung seinen Völkermord in Palästina fortsetzt – diese Bewegung war in den Diskussionen allgegenwärtig. Aber auch alle anderen Imperialismen, einschließlich des russischen Imperialismus, der seinen Kolonialkrieg in der Ukraine fortsetzt und den europäischen Mächten einen Vorwand für ihre Militarisierung im Eiltempo liefert. Wie kann man die notwendige Ablehnung der verschiedenen Aufrüstungspläne, die Fortsetzung unseres historischen Kampfes gegen die NATO und die Solidarität mit den Völkern verknüpfen, die sich im bewaffneten Kampf befinden, wie beispielsweise das ukrainische Volk? Diese Überlegung, die im Mittelpunkt des letzten Weltkongresses der Vierten Internationale gestanden hatte, war zwangsläufig Teil der Diskussionen im Camp. Wobei es den gemeinsamen Sockel gab: Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten in allen Ländern und Ablehnung, einen Imperialismus einem anderen vorzuziehen, als Grundsätze.

Ein europäisches Camp, ein globaler Kampf

Was diesen Debatten eine neue Dimension verlieh, war natürlich die außergewöhnlich große Präsenz von Gästen aus anderen Teilen der Welt, insbesondere aus Lateinamerika und Osteuropa, neben den Teilnehmer:innen aus den üblichen westeuropäischen Ländern. Diese neue Entwicklung spiegelt auch die Entwicklung der Vierten Internationale wider, deren größte Sektionen heute im Globalen Süden zu finden sind. Diese Tatsache hat zu Überlegungen über die Definition dieses Camps geführt, das zwar in dem Sinne „international“ ist, dass es mehrere Nationen zusammenbringt und seit jeher Gäste aus anderen Kontinenten willkommen heißt, aber historisch gesehen von den Jugendorganisationen der europäischen Sektionen der Internationale in Europa organisiert worden ist.

Während es offensichtlich unmöglich erscheint, ein globales Camp zu organisieren, an dem junge Menschen aus allen Ländern unter den gleichen Bedingungen teilnehmen können, bleibt die Frage offen, wie dieser neuen Situation Rechnung getragen werden kann: Können wir nicht-europäische Organisationen stärker in die politische Vorbereitung künftiger Veranstaltungen einbeziehen? Können wir die Erfahrungen dieser europäischen Camps nutzen, um so etwas auch in anderen Regionen der Welt auf die Beine zu stellen?

Warmes Wasser, Soundsystem und genervte Nachbarn

Abgesehen von den Debatten ist das Camp jedoch auch eine einzigartige menschliche Erfahrung voller Überraschungen – vor allem, wenn man sich der technischen Herausforderung stellt, es auf einem völlig leeren Feld zu organisieren. Lebensmittel sind fünf Tage lang verspätet angeliefert worden, Duschen sind mit durchgebrannter Sicherung geliefert worden, der Stromgenerator musste zwischendurch ausgetauscht werden – wir mussten also eine Reihe von unvorhergesehenen Pannen bewältigen. Aber dank unseres dänischen Elektrikers, unserer Schweizer Fahrer und unserer improvisierten spanischen und katalanischen Tontechniker hat es uns nicht an Ressourcen gemangelt. Alle Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten mussten, haben uns auf die eine oder andere Weise vor neue Herausforderungen gestellt; wir haben sie mit Hilfe von demokratischer Selbstverwaltung allesamt gemeistert. Daraus kann jeder und jede seine bzw. ihre eigenen politischen Schlussfolgerungen ziehen.

Und jetzt: die Kämpfe

Für uns als junge revolutionäre Aktivist:innen ist eine Woche wie diese für uns immer emotional aufgeladen. Und der Absturz kann manchmal hart sein. Es ist herzzerreißend, diese Busse voller Genoss:innen wegfahren zu sehen, die wir – zum größten Teil – ein Jahr lang nicht wiedersehen werden. Und nach all dem ist es nie leicht, zurückzukehren zu unseren ausbeuterischen Jobs, zu unseren Familien, vor denen wir unsere sexuelle Orientierung verbergen, oder in unsere Universitäten, die die Polizei rufen, sobald wir etwas zu laut werden. Eine Woche lang haben wir gemeinsam von einer Welt ohne Grenzen, Hierarchien und Unterdrückung geträumt, und jetzt müssen wir schnell zurück in die Realität. Aber die Zärtlichkeit der Völker ist nicht nur ein fernes Ideal: Sie ist unsere Waffe.

Die internationale Solidarität hat vor kurzem Viktor Orbán gerade einen schweren Schlag versetzt, indem sie die Pride in Budapest möglich gemacht hat. Sie hat endlich die Freilassung von Georges Ibrahim Abdallah erreicht. Sie beginnt die Isolation des israelischen Regimes zu erzwingen, das so gewalttätig wie eh und je ist, aber zunehmend in die Enge getrieben wird. Früher oder später wird sie alle Reaktionäre, Machos, Bullen, Banker, Vermieter, Ölbarone, Tech-Gurus, Kolonialisten, Möchtegern-Faschisten und echte Diktatoren besiegen. Bis dahin wird uns keine Grenze daran hindern, Seite an Seite zu kämpfen.

9. August 2025

Dieser Artikel ist von dem Organisationsteam des Camps verfasst worden, es bestand aus: Léonard Brice, Lucie Choquet, Elena Fernández-Fernández, Léa Maucourt, Denis Verstraeten.

Er ist in drei Sprachen auf der Webseite der Vierten Internationale veröffentlicht worden. Aus dem Englischen übersetzt und mit der Originalfassung abgeglichen von Wilfried intersoz.org

  • 1

    Belgien, Frankreich, Spanischer Staat, Portugal, Irland, Schottland, Wales, England, Niederlande, Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland, Österreich, Schweiz, Kosovo, Rumänien, Ukraine, Russland, Lettland, Vereinigte Staaten, Puerto Rico, Mexiko, Panama, Brasilien, Malta, Zypern, Australien.

  • 2

    Algerien, Marokko, Pakistan, Philippinen, Sudan.

Collective